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Figuren-Experimente und Geometrien

Gisbert Tönnis, 1939 in Berlin geboren, Sohn eines Arztes. Architekturstudium in Karlsruhe. Studium der Malerei in Kassel bei Fritz Winter und Luise von Rogister. Später selbst Professor für Malerei und Fotografie an der Universität Köln. Sein Metier: Bildmalereien, Gouachen, Zeichnungen. Auch Fotografien, Theatermalerei und Keramik. In der Kunstszene der 60er Jahre, des Postinformel, der sogenannten Neuen Figuration, der Jungen Wilden, der Kopffüßler des Horst Antes, der Schönfiguren mit Körperraffinesse des Paul Wunderlich beginnt seine experimentelle Kunst, laufen die Ausstellungen, zahlreich. Nicht nur in Galerien, auch in Museen. Vom Kunstverein Kassel (1961, Förderpreis) über die Museen in Wuppertal, Bremen, Witten, Gelsenkirchen, Erlangen, schließlich Saarbrücken reicht die Liste seiner bemerkenswerten Präsentationen und der dazugehörigen Werkkataloge.

2013 in Soest, im Kunstmuseum Wilhelm-Morgner-Haus. Tönnis stellt vor: Kopftheater, Figurenspiele mit Farbflächen und Geometrien. Bilderserien, betitelt wie "Körpererkundungen", "Bildszenen für Anthropologen", "Rot sehen", "Bei den Konstruktivisten", "Aus der schwarzen Serie". Ein experimentelles Bildtheater mit Menschfiguren, dividierten, lädierten. Figurenspiele mit Unterleib, Kopf, Gesicht. Phantasievoll und doch genau konstruiert. Manchmal wie vom Arzt gesehen, seziert, bandagiert. Und alle Figurenspiele schließlich kontaminiert mit auffälligen, phantasievollen wie geometrischen Farbflächen, Farb-Architekturen. Bildtheater, Kopftheater: Menschfiguren verbunden, geborgen oder in Spannung mit der Phantastik und Geometrie der Farbflächen.

Gisbert Tönnis inszeniert Bildgrotesken. So surreal wie real, farbstark in Rot und Schwarz, auch farboszillierend. Wie Leben, Tod oder Leben überhaupt. Und alle Kunstfiguration aus Leib und Geometrien auf der weißen Fläche, im weiten Bildraum. Eine originelle Bildästhetik der Phantastik und Surrealität. Ein Kopftheater mit Anspielungen an Kunstszene und Altmythen. Zugleich aber eine hintergründige Inszenierung: über alle Phantastik hinaus erfindet der Maler Tönnis ein Bildkonstrukt zwischen Groteske und existenzieller Bildphilosophie. Die "Körpererkundungen" fragen auch nach dem Schicksal des Menschen in dieser Welt.

Nachdenklich verarbeitet Gisbert Tönnis Stilformen der aktuellen Kunstszene, spielt mit Figuren archaischer Mythengeschichte. Souverän konstruiert der Maler, einstiger Architekturstudent und Kunstprofessor seine Kunstfiguren. Tönnis akzeptiert die Figur als Basis seiner Malerei aus den Vorschlägen der "Neuen Figuration", transponiert sie aber in seine Vorstellungen. Er diskutiert die Flächenmalereien der Deutschen und der Amerikaner, kennt die konstruktiven Experimente der Szene, den Surrrealismus der Leipziger Schule, verbraucht sogar informelle Elemente (Kopfdarstellungen, Körperreste). Nicht zuletzt denkt der Experimentator Tönnis an archaische Skulpturen, Figuren (an die ägyptische Sphinx, an mythische Tierköpfe, an Grabdenkmäler der Etrusker). In seinem Kopftheater akzeptiert, ironisiert, verwandelt Tönnis (siehe die von Tönnis ironisierten Podestfiguren des Stefan Balkenhol) und präsentiert zugleich seine originelle, spielerische wie andeutungsvolle Bildästhetik: Konstrukte, Simulakren aus Mensch, Geometrieflächen und Raum, oszillierend zwischen Groteske und existenzieller Bildphilosophie.

Diese Arbeiten inkarnieren so etwas wie eine Repräsentanz in der Malbiografie des Gisbert Tönnis. Summe und Höhepunkt einer jahrzehntelangen experimentellen Bildarbeit. Was aber darüber hinaus auffällt: In Tönnis' Spiel-Konstrukten aus Figur, Farbfläche und Raum ist der Bildernst, der existenzielle Verweis auf die menschliche Befindlichkeit in dieser Welt, seine Fragilität in diesem Mundus der Flächen und Räume stärker geworden. Nach den Bildern mit Phantasie-Architekturen, surrealer Technoiden früherer Bildexperimente hat Gisbert Tönnis in der Reihe seiner "Körpererkundungen", "Bildszenen für Anthropologen" u.a. die existenzielle Gehaltschwere seiner Bilder verstärkt. Der anthropologische Faktor des Malers und Arztsohnes hat zugenommen.

Die rätselvollen Bildgrotesken des Gisbert Tönnis sind ein Musterbeispiel heutiger Experimentalkunst. Und noch etwas mehr. Es sind Bildgrotesken eines Malers, ästhetisch originell wie hintergründig organisiert, ein kafkaeskes Bildtheater. Tönnis liefert eine auffällige Spiel-Ästhetik mit Figuren, Farben und Geometrien. Er reflektiert gekonnt wie beiläufig bekannte Stilformen der Kunstszene, mythische Figuren der Kunstgeschichte. Und nicht zuletzt: Er stößt über alles ästhetische Kunstspiel hinaus hintergründig zum Rätsel des Menschen und seiner Verletzlichkeit in dieser Welt der Körper, Räume und Flächen vor. Experimentelle Bildkunst und Bildphilosophie zur Existenz des Menschen spielen identisch.

Walter Israel